Eine Polizeieskorte fährt zum Oberlandesgericht Dresden.
exklusiv

Sicherheitsbehörden besorgt Zahl untergetauchter Linksextremisten steigt 

Stand: 24.09.2023 06:00 Uhr

Rund 20 Linksextremisten gelten nach Informationen von NDR und WDR als untergetaucht. Im Fokus steht vor allem das Umfeld von Lina E. Der Verfassungsschutz sieht im Rechtsextremismus aber das größere Problem.

Von Manuel Bewarder, Florian Flade und Sebastian Pittelkow, NDR/WDR 

Es könnte der Anfang einer "Tatort"-Folge sein: Polizisten kontrollieren ein Fahrzeug. Sie nehmen den Personalausweis des Fahrers und gehen zu ihrem Auto zurück, um die Personalien zu klären. In diesem Moment drückt der Fahrer aufs Gaspedal und rast davon.

Dieser Vorfall soll sich vor ein paar Monaten so ereignet haben: Bei einer Polizeikontrolle in Ostdeutschland konnte ein von der Polizei gesuchter untergetauchter Linksextremist entwischen. Für die Ermittlungsbehörden war es die Chance, dem linksradikalen Untergrund endlich näherzukommen. Vergeblich.

20 untergetauchte Personen

Nach Informationen von NDR und WDR ist die Zahl der untergetauchten Linksextremisten auf rund 20 Personen gestiegen - so viele wie seit Zeiten der Terrorgruppe Rote Armee Fraktion (RAF) nicht mehr. Mehr als ein Dutzend der untergetauchten Linksextremisten werden per Haftbefehl gesucht, einige per europäischem Haftbefehl. Manche von ihnen gelten als gewaltbereit, einige sogar als "Gefährder".

Hinzu kommt laut Sicherheitskreisen ein Umfeld von Unterstützern, die das Leben im Untergrund ermöglichen sollen. Hätten sich Linksextremisten noch vor ein paar Jahren vor allem auf Brandstiftungen und Sachbeschädigungen fokussiert, seien gezielte Gewalttaten gegen politische Gegner zunehmend in den Vordergrund gerückt.

Dass es tatsächlich zu Toten kommen könnte, wird in Sicherheitskreisen nicht mehr ausgeschlossen. Allerdings geht man bei den Untergetauchten von einem durchaus unterschiedlichen Gefährdungspotenzial aus. Im Frühjahr machte Verfassungsschutzchef Thomas Haldenwang zudem deutlich, dass für ihn Rechtsextremismus weiterhin "die größte Bedrohung für unsere freiheitliche demokratische Grundordnung und auch die Sicherheit" bleibe.

Szene hat sich besser vernetzt

In einer internen Gefährdungsanalyse soll das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) vor Kurzem jedoch seine Warnung im Bereich Linksextremismus verstärkt haben: Demnach habe sich das Aktionsniveau der Untergetauchten trotz des Ermittlungsdrucks nicht verringert - in der Vergangenheit sei dies bei Untergetauchten jedoch meist der Fall gewesen. Obwohl die Behörden die Ermittlungen intensiviert hätten, führten die Gruppierungen weiterhin Aktionen aus. Die Verfassungsschützer sehen demnach erhärtete Anhaltspunkte für eine im Untergrund operierende Zelle.

Mit der Terrorgruppe Rote Armee Fraktion (RAF) seien die Untergetauchten allerdings nicht zu vergleichen.

Was die Sicherheitsbehörden zudem besorgt: Im vergangenen Jahr haben sich Gruppen der Szene offenbar besser vernetzt. In Baden-Württemberg, Bayern und Rheinland-Pfalz haben sich unterschiedliche Antifa-Gruppierungen zu einer "Antifaschistischen Aktion Süd" (Antifa Süd) zusammengeschlossen, um Rechtsextremen nach eigenen Angaben "mit gebündelten Kräften den Kampf" anzusagen. Fernziel soll eine bundesweite Antifa sein.

Laut Landesamt für Verfassungsschutz in Baden-Württemberg gelang es der Gruppierung im März 2023 am Rande eines AfD-Landesparteitages eine "große Anzahl gewaltorientierter Linksextremisten zu mobilisieren". Bei Angriffen seien 53 Polizeibeamte verletzt worden.

"Herausbildung terroristischer Strukturen"

Eine neue Radikalisierung innerhalb der linksextremistischen Szene hatte das Bundesamt für Verfassungsschutz erstmals im Frühjahr 2020 festgestellt: In einer internen Analyse hatten die Beamten damals festgehalten, dass die "Herausbildung terroristischer Strukturen im Linksextremismus" möglich sei. Die "Intensität der Gewalttaten" habe sich erhöht. "Scheinbare,rote Linien‘ würden überschritten." Daher erscheine "auch der Schritt zur gezielten Tötung eines politischen Gegners nicht mehr völlig undenkbar".

Bundesinnenministerin Nancy Feaser äußerte sich im Interview mit NDR und WDR zu der Gewaltbereitschaft besorgt: "Wir sehen, dass dort eine Art Selbstjustiz vorherrscht, das ist aber nicht die Aufgabe von Zivilgesellschaft, sondern der Staat hat die Gewalt inne."

Im Fokus der aktuellen Ermittlungen steht das Umfeld der im Frühjahr vom Dresdner Oberlandesgericht verurteilten Linksextremistin Lina E. - aus diesem Personenkreis sollen auch die meisten der Untergetauchten stammen. Lina E. und drei weitere Männer waren damals wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung beziehungsweise wegen ihrer Unterstützung zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Die Urteile sind nicht rechtskräftig. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass die Gruppierung gezielt Jagd auf Rechtsextremisten gemacht und diese bei Angriffen zum Teil schwer verletzt hatte. Die Verteidiger von Lina E. und den Mitangeklagten hatten im Prozess einen Freispruch für ihre Mandantin gefordert.

Laut Sachsens Innenminister Armin Schuster sei die Zahl der Untergetauchten allein rund um Lina E. "eine neue Dimension". "Wer abtaucht, der radikalisiert sich auch weiter und deswegen ist das eine sehr besorgniserregende Entwicklung", so Armin Schuster gegenüber NDR und WDR.

Linksextremistischer Gefährder untergetaucht

Besonders der Verlobte von Lina E., der untergetauchte Johann G., Spitzname "Lücke", gilt den Sicherheitsbehörden als gefährlich. Das Bundeskriminalamt (BKA) stuft ihn als linksextremistischen Gefährder ein. Das heißt, dass die Behörden ihm jederzeit eine schwere Gewalttat oder einen Anschlag zutrauen. Er soll sich zunächst nach Thailand abgesetzt haben, dann wohl wieder nach Europa zurückgereist sein und gilt seitdem als untergetaucht.

Johann G. soll auch Mitte Februar in Budapest mit mehreren anderen Deutschen bei einem Angriff auf mehrere Rechtsextremisten am sogenannten "Tag der Ehre" beteiligt gewesen sein. Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden ermittelt dazu und ließ bereits mehrfach Wohnungen in Sachsen und Thüringen durchsuchen.

Nach Informationen von NDR und WDR soll in Kürze eine Öffentlichkeitsfahndung nach Johann G. gestartet werden. Das bedeutet, dass auch mit Fotos nach dem Untergetauchten gesucht werden soll. Zudem soll es für Hinweise auf ihn eine Belohnung von bis zu 10.000 Euro geben. Die Behörden warnen explizit davor, dass er gewalttätig sei. Eine Anfrage an seine Anwältin blieb zunächst unbeantwortet.

Neues Niveau der Gefährdung

Das Landeskriminalamt (LKA) Sachsen hatte zuletzt auch das Bundeskriminalamt (BKA) um Hilfe bei der Fahndung nach den untergetauchten Linksextremisten gebeten. Die Szene sei demnach deutschland- und europaweit vernetzt. Die Größe der handelnden Gruppierungen und die Zusammenarbeit mit ausländischen Tatverdächtigen würde ein neues Niveau der Gefährdung darstellen. Damit sollte der Fahndungsdruck auf die Zielpersonen erhöht werden, die an unterschiedlichen Orten im Bundesgebiet vermutet werden. Das BKA aber lehnte diese Bitte bislang ohne genaue Begründung ab, wie der "Spiegel" vor einigen Wochen berichtet hatte. Auf Anfrage wollte sich die Behörde dazu nicht äußern.

In Sachsen herrscht über die Zurückhaltung des BKA bislang Unmut. Einigen der untergetauchten Linksextremisten werden schwere Straftaten zugetraut, im Verfassungsschutzverbund wird insbesondere davor gewarnt eine überregionale Vernetzung und Gewaltbereitschaft der Personen zu unterschätzen.

Palina Milling, WDR, tagesschau, 24.09.2023 06:07 Uhr