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Jugendschutzfilter Aufklärungsseiten für Jugendliche nicht erreichbar

Stand: 16.01.2024 05:00 Uhr

Deutschlands offizieller Jugendschutzfilter verhindert mitunter, dass Webseiten mit Aufklärungsinhalten aufgerufen werden können. Das betrifft auch Angebote von öffentlichen Stellen, wie Recherchen von BR Data und netzpolitik.org zeigen.

Von Julia Barthel und Katharina Brunner, BR

"Diese Webseite kannst du leider nicht ansehen. Das empfohlene Mindestalter für diese Seite ist 18 Jahre." Wer bis vor Kurzem die Webseite meincomingout.de aufgerufen wollte, wurde mitunter von dieser Meldung aufgehalten. Der Grund: Ein aktivierter Jugendschutzfilter von JusProg, der Webseiten je nach Alter für Kinder und Jugendliche blockiert. Dabei ist meincomingout.de ein Angebot der Deutschen Aidshilfe. Menschen erzählen dort ihre persönlichen Geschichten, es geht um trans Personen, Schwule und Lesben, Zukunftssorgen und Mut zum Outing.

Die Seite der Aidshilfe ist keine Ausnahme. Eine Recherche von BR Data und netzpolitik.org zeigt, dass JusProg in mindestens 70 Fällen öffentlich finanzierte oder gemeinnützige Informationsangebote als ungeeignet für Kinder und Jugendliche eingestuft hat, selbst wenn sie sich gezielt an junge Menschen richten.

Für die Recherche erstellten BR und Netzpolitik.org eine Stichprobe aus mehr als 150 Suchanfragen bei Google zu sensiblen Themen, wie Minderjährige sie stellen könnten. Zum Beispiel: "Kondom benutzen", "Bulimie Hilfe" oder "Coming Out Tipps". Die Journalistinnen und Journalisten haben einige der betroffenen Webseitenbetreiber angefragt: Keiner wusste, dass er von dem Jugendschutzprogramm blockiert wird.

Einziges offiziell anerkanntes Jugendschutzprogramm

Das Jugendschutzprogramm JusProg ist das einzige Jugendschutzprogramm für Webseiten, das in Deutschland nach gesetzlichen Vorgaben anerkannt ist. Eltern können die Software auf den Geräten ihrer Kinder oder im Heimnetzwerk installieren, um sie vor nicht altersgerechten Inhalten im Internet zu schützen. Damit werden etwa Webseiten mit Pornografie oder Gewalt nicht angezeigt.

Das Programm wird vom gleichnamigen Verein JusProg e.V. entwickelt, einem Zusammenschluss von Kommunikationsanbietern wie Vodafone, ProSiebenSat.1 und Freenet, aber auch aus der Unterhaltungs- und Erotikbranche, um ihre Angebote rechtssicher zu betreiben.

JusProg senkte bei einer Reihe von Webseiten nach einer Anfrage von BR und netzpolitik.org die Alterseinschätzung, sodass sie für Jugendliche wieder erreichbar sind, und räumte ein, dass es in einigen Fällen zu einem "Overblocking" komme, für ein bestimmtes Alter geeignete Seiten also fälschlicherweise blockiert würden.

Technisch sei es eine besondere Herausforderung, insbesondere bei Themenfeldern wie Aufklärung und manchen Gesundheitsthemen, Webseiten automatisiert richtig zu altersklassifizieren, da diese notwendigerweise Worte und Wortkombinationen enthielten, wie sie auch auf problematischen Webseiten vorkommen, teilt der Vorsitzende Stefan Schellenberg auf Anfrage mit. Deshalb würden Webseiten auch händisch geprüft. Er verweist auf "Millionen richtig klassifizierter Webseiten", darunter Hunderte "aus sensiblen Themenbereichen". 

JusProg stuft Webseiten in Altersgruppen ein

Im Sinne der freiwilligen Selbstkontrolle sollen Anbieter laut JusProg-Webseite technisch auslesbare Alterskennzeichen (Age-de.xml-Standard) hinterlegen und so Auskunft darüber geben, ab welchem Alter die Inhalte geeignet sind. In der vom BR und netzpolitik.org untersuchten Stichprobe wurde das Verfahren jedoch kaum angewandt.  

Deshalb sortiert JusProg Webseiten nach eigenen Angaben in Altersgruppen ein: "ab 0 Jahre", "ab 6 Jahre", "ab 12 Jahre", "ab 16 Jahre" und "ab 18 Jahre". Bei dieser Altersklassifizierung setze das Programm auf eine Kombination von automatischen Verfahren und menschlichen Einschätzungen. Auf Anfrage von BR und netzpolitik.org erklärt JusProg, man setze Algorithmen ein, die Webseiten automatisiert auf Basis von Worten bewerten. 

Menschen kontrollieren laut Aussage von JusProg die Alterseinschätzung vor allem bei sehr häufig besuchten Webseiten oder wenn Beschwerden über falsche Einschätzungen bei dem Verein eingehen. Laut JusProg ist mittlerweile eine siebenstellige Zahl von Webseiten händisch geprüft worden.  

Filter auch im öffentlichen BayernWLAN aktiv

Auch Erwachsenen kann es passieren, dass sie Webseiten nicht erreichen können, weil JusProg sie mit einem Mindestalter von 18 Jahren versieht. Etwa, wenn sie sich in einen der mehr als 44.000 Hotspots des BayernWLANs einwählen, dem vom Freistaat Bayern finanzierten, öffentlichen WLAN-Netz. Technisch betrieben wird das WLAN vom Telekommunikationsanbieter Vodafone.

Das bayerische Finanzministerium, das für das BayernWLAN verantwortlich ist, teilte auf Anfrage von BR und netzpolitik.org mit: "Das Ministerium nimmt keinen Einfluss auf die Arbeitsweise des durch Vodafone eingesetzten Jugendschutzfilters."

Für den Betreiber Vodafone ist ein Jugendschutzfilter alternativlos: Sonst "wären Kinder und Jugendliche, die das WLAN nutzen, auch extrem entwicklungsbeeinträchtigenden Inhalten im Internet ausgesetzt", schreibt die Jugendschutzbeauftragte des Unternehmens, Melanie Endemann, die auch Mitglied im Vorstand von JusProg ist, auf Anfrage. Die Verantwortung für die Filterliste obliege dabei allein dem Verein JusProg.  

Jugendschützerin: Filter können unterstützen

Nina Börner, Referentin für Jugendmedienschutz bei der Aktion Jugendschutz Bayern, sagt zur Filtersoftware von JusProg: Solche Programme könnten unterstützen, vor allem bei jüngeren Kindern, denn "es ist nicht möglich, 24/7 daneben zu sitzen, wenn mein Kind digitale Medien nutzt". Aber Filter seien nicht alles. "Das Wichtigste ist, dass Jugendliche und Kinder früh befähigt werden, das Internet zu nutzen." Kinder müssten lernen, wie sie sich dort verhalten und an wen sie sich wenden können. 

Das automatisierte System zur Altersbewertung von Webseiten will JusProg jetzt verbessern und schreibt auf Anfrage von BR und netzpolitik.org: "Wir haben Ihr Testergebnis zum Anlass genommen, einige Verbesserungspotentiale bei uns zu identifizieren, die wir jetzt angehen werden." Man berücksichtige nun auch einige der neuesten LGBTIAQ+ Abkürzungen.

Diese Recherche entstand in Zusammenarbeit mit Sebastian Meineck von netzpolitik.org. Die Recherche wurde ermöglicht durch technische Vorarbeit der IT-Sicherheitsexpertin Lilith Wittmann.

Julia Barthel, BR, tagesschau, 16.01.2024 05:27 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete MDR aktuell am 16. Januar 2024 um 11:48 Uhr.